Fünf Jahre Flüchtlingskrise

 

 

 Mit dem –unscharfen und teilweise falschen – Begriff der Flüchtlingskrise versuchen wir Ereignisse und Entwicklungen zu erfassen, die nach unserem subjektiven Empfinden 2015 ihren Anfang genommen haben und seitdem die politische Agenda fast durchgängig bestimmen oder zumindest mitbestimmen. Gemeint ist die Einreise von fast einer Million Menschen aus vielen verschiedenen Ländern nahezu aller Kontinente und aus völlig unterschiedlichen Gründen nach Deutschland. Doch weder hat dieses Phänomen 2015 seinen Anfang genommen, noch waren sämtliche einreisenden Personen Flüchtlinge im rechtlichen Sinn.

 

Wanderbewegungen ganzer Völker oder Teile hiervon gab es in der Menschheitsgeschichte schon immer - man denke nur an die Völkerwanderungen vorwiegend germanischer Gruppen im ersten Jahrtausend nach Christi oder die Auswanderung von ca. 200.000 Deutschen nach Amerika im 18. Jahrhundert. Aus der jüngeren Gegenwart ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands der Umzug von mehr als zwei Millionen Ostdeutschen in die alte Bundesrepublik zu nennen. Und noch heute verlassen mehr als 150.000 Menschen pro Jahr ihr Heimatland Italien, um in anderen Ländern, vorwiegend der Europäischen Union, Arbeit zu finden.

 

Diese wenigen Beispiele zeigen nicht nur, dass es Migration immer gab, sondern auch die vielfältigen Motive hierfür. Bei dem, was uns als Völkerwanderung bekannt ist, waren es vorwiegend machtpolitische Gründe im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit dem Römischen Reich, bei der Auswanderung  nach Amerika vorwiegend religiöse Gründe, beim Umzug von Ostdeutschen in den Westen die Suche nach Arbeit und bei den italienischen Migranten die wirtschaftlich desolate Situation in ihrer Heimat. Und keineswegs begann die Migration in Richtung Europa und vorwiegend Deutschland erst 2015. Bereits in den Jahren zuvor waren immer wieder Migranten an den Küsten der Staaten der Europäischen Union angekommen, waren Menschen im Mittelmeer ertrunken, hatten Schlepper ihr einträgliches Geschäft mit menschlicher Not betrieben – wenngleich nicht in dem Umfang des Jahres 2015.

 

Wie sich bereits aus den exemplarisch dargestellten unterschiedlichen Gründen für Migration ergibt, sind keineswegs alle oder auch nur die Mehrheit der Menschen, die aus Ländern des globalen Südens nach Europa drängen, Flüchtlinge. Wer als Flüchtling bezeichnet werden und dementsprechend Schutz in Anspruch nehmen kann, ist in der Genfer Flüchtlingskonvention definiert. Danach ist Voraussetzung die individuelle Verfolgung durch staatliche Institutionen aus unterschiedlichen Gründen, beispielsweise aus politischen oder religiösen Gründen. Bereits hier wird deutlich, dass die Mehrzahl der Schutzsuchenden (und das ist die zutreffendere Bezeichnung für die Migranten) keine Flüchtlinge im Sinne der Konvention sind. Die absolute Mehrzahl der Menschen, die nach Europa kommen, flieht nicht, weil sie individuell verfolgt werden, sondern weil in ihrer Heimat Krieg herrscht (Syrien), weil die klimatischen Verhältnisse katastrophal sind (Schwarzafrikaner aus der Sahel), weil es in ihrer Heimat keine Arbeit gibt, mit denen sie sich und ihre Familien ernähren können (Demokratische Republik Kongo) und viele andere Gründe mehr. Natürlich gibt es noch viele weitere Konflikte, die ich nicht erwähnt habe, vergessene Bürgerkriege wie in der Zentralafrikanischen Republik, ethnische Konflikte wie in Myanmar, kriegsähnliche Zustände wie in Afghanistan etc.

 

Dass diese Menschen keinen Schutz nach der Genfer Konvention oder nach anderen Rechtsvorschriften beanspruchen können, heißt allerdings nicht, dass sie schutzlos sind. Niemand wird z.B., solange der Bürgerkrieg nicht beendet ist, nach Syrien abgeschoben. Hier wird sogenannter subsidiärer Schutz gewährt, ein Status, der von der Situation im Herkunftsland abhängt. Aber was geschieht mit den sogenannten Klimaflüchtlingen, was mit Wirtschaftsflüchtlingen?

 

Die komplexe Motivlage zeigt, dass die Grenzen fließend sind. Nicht alle Migranten sind, wie ich gezeigt habe, Flüchtlinge. Jedoch sind alle Schutzsuchenden Migranten. Aber nicht jeder Migrant hat Anspruch auf Schutz.

 

Diesen Konflikt löste Bundeskanzlerin Merkel im September 2015 durch die Öffnung der Grenzen – eine folgenreiche und unter humanitären Gesichtspunkten nachvollziehbare und ehrenwerte Entscheidung. Die allerdings nicht nur politisch katastrophale Folgen hatte, sondern auch Europäisches Recht brach. Denn nach der Dublin Verordnung muss ein Schutzsuchender in dem Land einen Asylantrag stellen, in dem er zum ersten Mal den Boden der Europäischen Union betritt. Diese Vorschrift wurde durch die Bundesregierung demontiert, ohne dass dies mit den Partnern in der Union abgesprochen gewesen wäre. Die Folgen waren dramatisch. Nicht nur drängten gewaltige Flüchtlingsströme in die EU und dort vor allem nach Deutschland und Schweden, einige Länder, die auf der sogenannten Balkanroute lagen, schlossen ihre Grenzen und weigern sich bis heute, neu ankommende Schutzsuchende aufzunehmen. Innenpolitisch hatte das Vorgehen der Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Erstarken der AfD zur Folge, die zum damaligen Zeitpunkt bereits auf Quoten unter 5 % abgesunken war und die heute mit  fremdenfeindlichen und menschenverachtenden Parolen einen nicht unerheblichen Teil der Wähler erreicht.

 

Bei uns in Bad Säckingen kamen die ersten „Flüchtlinge“ Anfang 2015 an und wurden in der Sammelunterkunft Langfuhren untergebracht. Es waren ca. 50 allein reisende junge Männer aus dem Kosovo, also keineswegs Flüchtlinge. Ich habe seinerzeit die Gruppe in meinen Funktionen als Vorsitzender des von mir gegründeten Vereins „Refugees Integrated“ und als Bürgermeister Stellvertreter begrüßt und darauf hingewiesen, dass nicht zu erwarten sei, dass die Gruppe Schutz in Deutschland erhalten werde. So kam es dann auch; alle Personen sind bereits seit langem wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt.

 

Insgesamt hat Refugees Integrated in diesen Jahren mehrere hundert Schutzsuchende ehrenamtlich betreut, die Menschen mit Bekleidung ausgestattet, Deutschkurse angeboten, Beistand in rechtlichen Fragen und vieles andere mehr geleistet. Ohne die Arbeit der Ehrenamtlichen wäre der Ansturm nicht zu bewältigen gewesen.

 

Unsere Arbeit wurde von mehreren Seiten gewürdigt, so hat das Sozialministerium Stuttgart eine große finanzielle Unterstützung gewährt, bei einem internationalen Wettbewerb der BASF wurde RI mit einem Preis ausgezeichnet, namhafte Spender haben unsere Arbeit unterstützt, und bis heute kümmert sich der Verein zusammen mit den seit kurzem aktiven Integrationsmanagern um die bei uns gestrandeten Menschen.

 

Untersuchungen haben ergeben, dass ca. 40 % der Schutzsuchenden inzwischen eine sozialversichungspflichtige Arbeit aufgenommen haben – ein überraschendes Ergebnis nach relativ kurzer Zeit. Aber sicher liegt noch Vieles im Argen, muss noch eine gewaltige Arbeit gelistet werden, bis die Situation, die ihre Wurzeln in 2015 hat, in eine relative Normalität überführt werden kann.

 

Inzwischen sind die Ankommenszahlen erheblich geringer, vor allem auch deshalb, weil die EU eine –unsichtbare- Mauer errichtet hat. Das Menschenrecht auf Asyl wird nicht mehr garantiert, weil man nachvollziehbar nicht in der Lage ist, alle Schutzsuchenden aufzunehmen. Allerdings scheint sich die Situation wieder zu verschärfen: Seit einiger Zeit kommen wieder mehr Menschen in Europa an, die Balkanroute wird wieder häufiger frequentiert und vor allem der Flüchtlingspakt mit der Türkei weist gewaltige „Löcher“ auf. Präsident Erdogan benutzt den Vertrag als Druckmittel gegenüber der EU, indem er Kritik an seiner völkerrechtswidrigen Invasion nach Syrien mit der Drohung konterkariert, er könne jederzeit wieder die Schleusen öffnen und die in die Türkei geflüchteten 3,5 Millionen Syrer nach Europa ausreisen lassen. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Gründe für Migration nicht verändert haben, jedenfalls nicht zum Positiven. Im Gegenteil: Die kriegerischen Konflikte nehmen zu, nicht ab, auch wenn es den Anschein hat, dass der Bürgerkrieg in Syrien dem Ende zugeht. Dafür ist z.B. die Situation in Libyen, einem mit „Hilfe“ der NATO gescheiterten Staat, unabsehbar katastrophal, was im Übrigen zu einer neuen Fluchtroute über das Mittelmeer nach Spanien geführt hat. Solange Menschen aber ihre Heimat verlassen, weil sie dort nicht sicher sind oder zu verhungern drohen, wird sich Europa und damit auch und hauptsächlich Deutschland mit dem Problem der Flucht beschäftigen müssen. Und das gilt auch für Bad Säckingen mit seiner Sammelunterkunft in der Gettnau. Ich kann daher nur davor warnen, die gegenwärtige Ruhe fehl zu interpretieren; es könnte die Ruhe vor dem Sturm sein.